Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung Yard, Hamburg, 22. Sept. 2018

 

Meine Damen und Herren,

ich weiß nicht, wie es Ihnen damit geht, aber mir gefallen Bilder viel schneller, als ich sicher sagen kann, warum sie das tun.
Wahrscheinlich ist deshalb die Interpretation (beispielsweise von Gedichten im Deutschunterricht der Schulen) so unbeliebt, weil dabei der Eindruck erweckt wird, man müsse  zuallererst etwas verstehen. – Nein:
In der Kunst spricht ein Unbewusstes zum andern. Das Bewusstsein steht erst mal außen vor. Es will sich einmischen in das Gespräch, aber es versteht die Sprache nicht.
Es kommt sich vor wie in einem sehr fernen Ausland und agiert sozusagen mit Händen und Füßen.

Als ich das erste Mal Bilder von Maria Schoof sah, ohne ihre Biografie sonderlich zu kennen und ohne eine Ahnung von ihrer Arbeitsweise, wusste ich: eine Leserin. Also eine von uns, die wir weniger werden, aber dafür immer mehr lesen. Das wurde mir später bestätigt und auch, dass es eine Übereinstimmung zwischen unseren literarischen und bildkünstlerischen Vorlieben gibt: die Zeit von 1940 bis 1970, vor allem in den USA, der abstrakte Expressionismus und die so genannte Neue Figuration, die Literatur der
Beat Generation und so weiter.
Ich kann die Namen hier nicht alle aufzählen, zitiere mich stattdessen lieber selbst und sage: Wie die von Maria Schoof aufgerufenen Anreger aus bildender Kunst und Literatur der Atmosphäre des Kalten Krieges gegenüber sozusagen auf der eigenen Temperatur, sprich: dem eigenen Temperament, dem eigenen Fieber auch … bestanden und die Relevanz des Andersseins hervorhoben, setzt die Malerin Schoof auf die Entfesselung der eigenen Lebens- und Hausgeister, Dämonen, Kuscheltiere der Kinder und Emojis eingeschlossen, um der trügerischen Ruhe, aber auch der verdrängenden Hektik des Alltags beizukommen.

Dem kann ich, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs aufgewachsen und nicht – wie Maria – biografisch mit Amerika verbunden, aber doch, wenngleich aus anderen Gründen, ähnlich begeistert von dieser Kultur, durchaus was abgewinnen. Aber ich will nicht zu lange von mir reden.

    Die Ausstellung hier heißt „Yard“. – Auf das alt-englische Längenmaß, das mir mein Wörterbuch und auch Google zuerst nahelegen, komme ich nicht im Traum, ich kenne die Vokabel von „Backyard“, „Graveyard“, „Schoolyard“ und natürlich „Scotland Yard“. Ich denke aus irgendeinem Grund an „Fairground“ und übersetze: Hof, Garten (Jardin, Giardino), Wirkungskreis, Umland, Feld, also: das Land – wie im Lied von Patti Smith* oder in Eliots „Waste Land“, Zitat: „Soll ich zuletzt mein Land in Ordnung bringen?“, oder in Voltaires „Candide“, wo es am Ende heißt: „Wir aber haben unseren Garten zu kultivieren.“ Oder, gefälliger, obwohl eher ungenau übersetzt: „unseren Garten zu bestellen“.
Es könnte jedoch auch der Mond einen Hof haben, die Künstlerin könnte Hof halten oder einfach nur nach Möglichkeit und Kräften haushalten mit den Gegebenheiten. - Die Wörter „einfach“ und „nur“ nehme ich unverzüglich zurück. Pardon.
Damit ist ein Umriss gegeben. – Apropos: Die Figuren auf den Bildern von Maria Schoof stoßen mit ihren Umrissen an die Außenwelt, in ihrem Inneren sind sie angefüllt – ja, womit? Auf jeden Fall nicht mit den üblichen Organen am rechten Fleck. Statt Herz und Niere nach den Vorschriften der Schulmedizin zu prüfen, bräuchten wir, wenn wir Ärzte wären, erst einmal ganz andere Instrumente. Andere Augen vielleicht? – Das ist ja die schönste Eigenschaft der bildenden Kunst: sie lässt uns mit anderen Augen sehen.

 

Halten wir uns an den Garten-Begriff. Und behalten wir den des Hofes und den des Wirkungskreises dabei im Sinn, dann wäre, was uns blüht und fruchtet im Innern der Figuren hier – wie auch in den Erzählungen aus der Innenwelt, die, glaube ich, die Mehrzahl der Bilder ausmachen, ein Überfluss an Gedanken, ein chaotisch gewachsenes und oft überraschendes, ja, sensationelles, manchmal riskantes Miteinander gegensätzlicher Triebe und Strebungen.


Man könnte den Umriss der Figuren – deren Haut sozusagen – auch als Rand eines Korbes verstehen und das Innere als aufgesammelte – nun, sagen wir: Eindrücke,
Erlebnisse …, die wieder ausgeteilt werden können. Oder weiterverwendet. Verarbeitet. Einen Ertrag. Ein Angebot.
Jedenfalls gibt es eine Spannung zwischen Innen und Außen, die als Sammlung und Zerstreuung gut beschrieben sind. Apropos „Beschreibung“. In dem Schrift-Bild „face III“ gibt es keinen Umriss, keine Kapsel, keine Schale, keine Haut und weder Schädeldecke noch wirklich Gesicht. Es gibt nur eine Wolke aus Worten, Zitaten, die ineinander laufen wie Kreide auf einer Schultafel. Ein Entwurf in dauernder Überarbeitung, die an ein lediglich vorläufiges Ende – daher „face III“ – gekommen ist.
Kein Mensch wird mit sich selbst jemals fertig. Selbst gestorben, wird er nie mit sich fertig geworden sein.

Figur wird aber nur, wer an seine Grenzen stößt. Grenzen sind – zwar mehr oder weniger, aber doch immer durchlässig. Darauf kommt es an.
Es liegt nahe, Traum-Notate in solchen Bildern zu sehen. Ich weiß, dass Träume für die Arbeit von Maria Schoof sehr wichtig sind. Freilich, immer wenn ich davon anfange, dass Künstler auch im Schlaf arbeiten, breitet sich ein Glanz der Ironie auf den Gesichtern der Umstehenden aus. Nein, muss ich dann rasch hinzufügen, es malt sich nicht im Schlaf.
Im Gegenteil. Und: Es wird auch nicht um Mitleid gebeten.

Es geht um nichts anderes als die Beschreibung einer Arbeits- und Wahrnehmungsweise, die lebensklug ist. Träume räumen mit der Aufgeräumtheit des Tagwerks auf und stellen das anfängliche Chaos wieder her. Hegel, am Anfang seiner Philosophie, nennt es: „Die Nacht der Welt“. Sie weckt die schlummernden Möglichkeiten vor dem Erwachen, das dann wieder in die Festgelegtheit führt. Es bleibt ein Rest Erinnerung, der beunruhigt und auf den Weg aus der Denk-Routine weist.
Heutzutage findet man ja viele Leute, die ihr Weder-Noch politisch in die Waagschale werfen. Was mich betrifft, bin ich weder Pessimist noch Optimist, aber ich sehe die Dinge im Fluss und lieber im Werden als im Vergehen. Ich glaube an den Lebenshunger und an kein Ende. - Gern erzähle ich eine Anekdote, die nicht verbürgt ist; ich habe sie halb gelesen, halb geträumt und mehrfach umgeschrieben, also fast erfunden. Sie geht so: Der Literaturwissenschaftler Sylvère Lotringer bemühte sich in den siebziger Jahren sehr, die französische Philosophie seinerzeit in den USA unter die Leute zu bringen. So verschaffte er Gilles Deleuze einen Auftritt bei einer Konferenz amerikanischer Zahnärzte.
Der Philosoph zitierte dort die Dichterin und Sängerin Patti Smith, die er kurz zuvor in New York kennengelernt hatte, mit folgenden Worten: „Suche nicht nach der Wurzel, sondern folge dem Kanal“. Die Dentisten waren begeistert: „Genau das ist es, was wir auch immer sagen: Die Geschichte des Zahnwehs ist viel länger als die Geschichte des Zahns. Und sie ist beileibe nicht beendet, wenn man die kranke Wurzel aus dem Kiefer hebelt.“ – Das, meine Damen und Herren, ist die praktische Wahrheit der Poesie.

Ich bedanke mich für die Gelegenheit, in dieser schönen Ausstellung sprechen zu dürfen, zuerst aber bedanke ich mich für mein Vergnügen an den Bildern selbst und für den poetischen Raum, den sie schaffen. Genießen wir den. Danke.

Hans Brinkmann, Hamburg,  22.  Sept. 2018

Anm.: * gemeint ist: „Distant Fingers“ (Lanier / Smith) von der LP „Radio Ethiopia“, 1976

 

Hans Brinkmann

wurde 1956 in Freiberg geboren, studierte Museologie in Leipzig und lebt heute als freier Autor, Journalist und Kunstkritiker in Chemnitz.

Er erhielt zahlreiche Preise, darunter 1992 ein Stipendium der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo, sowie etliche Arbeitsstipendien des Freistaates Sachsen.